Über den Dächern von London lässt es sich gut meucheln und intrigieren. Mit Bowler Hat und Taschenuhr gegen die Unterdrücker. Wir haben uns Assassins Creed Syndicate angesehen und mit den Assassinen einen Zwischenstop in der Zeit von Sherlock Holmes und Jack the Ripper gemacht.
Endlich! Dieses Gefühl und dieser Ausruf gingen mir persönlich durch den Kopf, als ich erfuhr, dass das neue Assassin’s Creed sein Setting des viktorianischen Englands der 1860er Jahre angesiedelt sein wird. Seit dem dritten Teil hatte ich immer die Hoffnung, dass der jeweils nächste Titel genau in dieser Epoche spielen wird. Nun ist es endlich soweit und wir dürfen uns über Industrialisierung und dreckige Gassen freuen.
Die Assassin’s Creed-Serie blickt auf eine sehr lange Reihe von Spielen zurück, die von atemberaubend bis zu „Ich verstehe die Welt nicht mehr“ reichen. Nicht jedes Setting eignet sich für abendfüllende Stories und interessante Charaktere. In Assassin’s Creed Syndicate begibt man sich zu den Ursprüngen der Serie zurück und präsentiert eine große Welt, in der Parkour und Meucheln nicht alles sind. Die Industrialisierung markiert einen sehr wichtigen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit; neue Technologien und der Mensch als Ressource der Arbeitsschöpfung drangen immer mehr in den Vordergrund. In dieser Zeit schwelt der ewige Konflikt im Schatten – zwischen den korrupten Templern und den regulierenden Assassinen. In dieser Zeit treffen wir auf die beiden Geschwister Jacob und Evie Frye, die anstatt im Alleingang zu agieren, eine Gruppe von anderen Assassinen anführen, welche sich Bruderschaft nennen.
Gerade in Anbetracht des Detailreichtums sollte man sich bei Assassin’s Creed Syndicate die Zeit nehmen, durch die Straßen zu spazieren und den Leuten bei ihrem Tagwerk zuzuschauen. Im Vergleich zur Grafik der Vorgänger sind die Details und kleinen Nuancen hier umwerfend. Dies mag zum einen auch an der hauseigenen Engine liegen, die zu Höchstleistungen aufläuft. Selten hat es so viel Spaß gemacht, in einem Assassin’s Creed den wirklichen Stealth-Modus einzuschlagen und sich den Gepflogenheiten der Stadt anzupassen. Man wird nicht nur auf spielerischer Ebene durch und durch verwöhnt, sondern auch in grafischer Hinsicht. Ubisoft Quebec hat hier ein sehr realistisches Zeitzeugnis abgeliefert. So kommt man sich oftmals selbst vor wie ein Zeitreisender.
Wer sich ein wenig mit der Geschichte der Industrialisierung auskennt, wird nicht umhin kommen, sich gewissen Fantasien und „Was wäre Wenn“-Szenarien hinzugeben. Schließlich war das London dieser Zeit geprägt von einer sehr großen Schere, die zwischen Arm und Reich klaffte. Bestimmte Bereiche des öffentlichen Lebens profitierten enorm von den Entwicklungen und andere Bereiche wurden in die Vergessenheit verbannt. Als Beispiel sei hier die Macht von Politik und Banken genannt, die einen enormen Einfluss auf das Zeitgeschehen hatten, während auf der anderen Seite Menschen durch Maschinen ersetzt wurden. So sitzen hinter all den Marionetten immer noch die sehr einflussreichen Templer, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, zu profitieren und diverse Intrigen zu schmieden.
Abstriche gibt es bei dem Spiel in Sachen Steuerung. Die Assassinsen bewegen sich zwar vollkommen flüssig und filigran, aber oftmals hat man den Eindruck, das Spiel übernehme die Steuerung und man selbst müsse nur b und an einen Knopf drücken. Dies mag zwar auf den ersten Blick entlastend erscheinen, aber es ist dabei doch leider auch ein wenig bevormundend. Dafür funktionieren sämtliche akrobatischen Einlagen einwandfrei und falsche oder unsauber ausgeführte Aktionen passieren nur sehr selten. Wir können festhalten, dass Ubisoft auch hier ordentlich nachgelegt und Fehler der Vergangenheit ausgebessert hat.
Erfreulich ist das Stealth-Spielelement. In Assassin’s Creed Syndicate kann man dieses unter noch erbarmungsloseren Vorraussetzungen erleben. Da wir uns ja in der Industrialisierung befinden und zu dieser Zeit fast an jeder Ecke Menschen sowie Ordnungshüter zu finden waren, werden Fehler im Spiel entsprechend schneller bestraft. Wird man gesehen, ist ein Entkommen aus der Situation nicht mehr ganz so leicht wie in den Vorgängern. Daher sollte man, statt dumpf vorzupreschen, oftmals erst abwarten um in einem günstigeren Augenblick das Ziel zu eliminieren – Jack the Ripper-Style eben.
Eine wichtige Neuerung ist der Greifhaken. Mit diesem kann man benachbarte Gebäude erreichen und so Abgründe überqueren. Auf der einen Seite ist dies ein nettes Gimmick, aber es erleichtert in manchen Situationen das Flüchten vor Feinden, was das Spiel etwas zu einfach werden lässt. Puristen sollten daher den Greifhaken sparsam einsetzen. Spaß machen die Fahrten mit den Kutschen, die über ganz London verteilt sind und die man nach Lust und Laune klauen kann. Für meinen Geschmack sind die Kutschen aber etwas zu overpowered und schnell, was aber Geschmackssache sein dürfte.
Assassin’s Creed Syndicate ist ein Spiel mit kleineren Schwächen, das aber durch ein phänomenal düsteres London der 1860er Jahre für Staunen sorgt und einen unbeschreiblichen Charme entwickelt. Fast schon eine kleine Zeitreise auf hohem Niveau.