Fallout 3.5 ist das erste, an was man denken muss, wenn man zum ersten Mal die Augen aufmacht und in Doc´s Gesicht blickt. Ein kurzer Blick auf die Verpackung verrät, New Vegas ist kein DLC sondern ein richtiger Fallout-Titel der sich aber partout dagegen wehrt, Fallout 4 genannt zu werden. Man kann von Glück reden, dass grafische Ausflüge in der Fallout-Welt eher nebensächlich sind und das Hauptaugenmerk auf einer intensiven Story mit RPG-Elementen liegt. Zu altbacken und zu karg wirkt die gesamte Umgebung. Seit Fallout 3 hätte man eigentlich etwas mehr Glanz erwarten können.
Fallout 3 lebte von seinem düsteren dystopischen Ambiente. In New Vegas wimmelt es im Vergleich dazu, geradezu von Menschen und Tierfamilien. Daher wirkt Fallout: New Vegas zu Beginn weniger verstörend als Fallout 3. Diese Verwirrung geht glücklicherweise sehr schnell vorbei. Denn der erste Frust über das konsequente verändern der düsteren Grundstimmung ist wie weggeblasen, sobald man die ersten Gegenstände eingeheimst hat, um diese beim nächsten Shop gegen Kronkorken einzutauschen. Genau diese Formel lässt den Spieler auch größtenteils über Bugs oder andere Fehler, wie es sie auch in Fallout 3 zuhauf gab, hinwegsehen. Allerdings ist dieser Sammel- und Erkundungsspaß im Vergleich zum Vorgänger, etwas schwerfälliger. In New Vegas dauert es eine gewisse Zeit, bis man mit der Situation und dem Setting warm geworden ist. So ist der Anfang unweigerlich ein Trial and Error Versuch, die richtige Richtung zu unserem Ziel zu finden. Die Gegner sind zu Beginn selbst als Einzelkämpfernaturen absolut erbarmungslos und angriffslustig. Daher fallen in der ersten Stunde Nettospielzeit, die Exkursionen gänzlich weg und man muss sich zu Beginn somit recht stringent an die zunächst noch linear vorgegebenen Missionsziele halten.
Nach dieser Warm-Up Phase geht der Spaß allerdings erst richtig los. So sieht man weit entfernt am Horizont die fast schon surreal anmutende Stadt Freeside, die durch ihre schillernden Lichter in der Nacht auffällt. Aus dieser Distanz wirkt diese Stadt erschreckend intakt und unberührt, da es Elektrizität gibt, die wichtigste Errungenschaft, um eine Zivilisation nicht in den Wahnsinn verfallen zu lassen. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die Welt in New Vegas abgespeckt und klein ist, ganz im Gegenteil. Der Umfang bei New Vegas ist riesig, denn es gibt nicht nur den Hauptplot, sondern auch diverse verschiedene Ziele, die sich zu erreichen lohnen. So muss man zum Beispiel nur mit Nahkampfwaffen bewaffnet, insgesamt 10.000 Schadenspunkte aufsummieren oder aber Güter im Wert von 10.000 Kronkorken verkaufen. Dies ist nur die Spitze des Eisberges, denn es gibt auch noch diverse Nebenquests zu bestreiten, die zwar nicht an die Qualität der Nebenmissionen aus Fallout 3 heranreichen, aber durchaus ihre Reize haben. Hier merkt man die strukturelle Komplexität, mit der die Rollenspielelemente ihren Einzug in Fallout: New Vegas finden. New Vegas kann im direkten Vergleich mit dem Vorgänger ein dickes Plus auf die Haben-Seite setzen. In New Vegas ist eine falsche Punkteverteilung tödlich. Durch unlogische Verteilungen kann es mitunter sein, dass manche Passagen im Spiel sehr tricky werden und man schon einiges an Ideen auffahren muss, um das Questziel zu erreichen. Hier ein nettes Beispiel für eine fehlerhafte Punkteverteilung der Marke „Rausreden bei jemandem der nicht zuhören kann“: Todeskrallen kann man nicht einfach mit einer 9mm-Pistole besiegen, wenn die einzigen Attribute unseres Charakters Reparieren und Feilschen sind und man vergessen hat, den Bereich Handfeuerwaffen sinnvoll zu erweitern, selbst wenn es eine High-End Laserwaffe wäre.
Diese permanenten Micro-Entscheidungen sind es, die Fallout: New Vegas nie langweilig werden lassen. Sämtliche Entscheidungen haben hier auch glaubwürdige Konsequenzen. Entscheidet man sich dafür, die Pulverbanditen zu bekämpfen, so schicken sie ihre Todesschwadronen hinter unserem Spieler her. Diese tauchen dann auch an den unmöglichsten Plätzen auf und sorgen so für permanentes Über-die-Schulter-schauen. Es ist also eine sehr moralische und vor allen Dingen konsequenzträchtige Entscheidung, ob man Gut oder Böse sein will. Wobei man ähnlich wie im Vorgänger sagen kann, dass es schwieriger ist, den tugendhaften Pfad zu wählen, denn schnell ist mal der falsche Safe geknackt oder die falsche Person per Kopfschuss auf den Wüstenboden befördert. Daher sollte man so lange wie es möglich ist, mit den einzelnen Fraktionen ein zumindest neutrales Verhältnis aufbauen, egal wie sehr der Trigger-Finger juckt. Zumal gegnerische Attacken nur selten unter drei Angreifern statt finden. Sämtliche Fraktionen haben nämlich ihre eigenen Hierarchien. So hat zum Beispiel die Legion ein römisches Herrschaftsmodell aufgebaut, welches an Cäsar erinnert. Deshalb kommen Legion-Kämpfer immer im Pack als Angreifer daher, nebst Wölfen. Bei der boshaften verstrahlten Tierwelt sieht es nicht weniger drastisch aus, denn die kämpfen nun auch aktiv mit. So gibt es bei manchen Gegnern auch Baby-Varianten, die ihrem Kindchen-Schema allerdings nicht gerecht werden, denn an Angriffspotential stehen diese ihren Eltern in nichts nach.
Wie gewohnt kann man die Gegner entweder per Echtzeit-Action unter Beschuss nehmen, nebst dümmlicher KI. So reicht es meistens bei regulärem Fußvolk, rückwärts einen Berg hoch zu rennen und dabei aus allen Rohren auf die Verfolger zu feuern, um so die Situation zu klären. Für Taktiker ist daher der bekannte VATS-Modus interessant. In diesem wird der aktuelle Kampf unterbrochen und diverse Trefferzonen der Gegner werden angezeigt, nebst prozentualer Trefferwahrscheinlichkeit. Der VATS-Modus sollte zu Beginn des Spiels häufiger benutzt werden, um die Beine der Gegner zu zerstören. Anders als in Fallout 3 ist es bei New Vegas unabdingbar, die Gegner zu immobilisieren, da Kopfschüsse mit direkter Todesfolge zu Beginn eher Glückstreffer sind und selten vorkommen. Eine Neuerung bei den Waffen findet sich in Form von Do-it-Yourself Werkbänken wieder. So muss man sich nun komplett selber um die eigenen Waffen kümmern. An diesen Arbeitsflächen kann man entweder Munition – oder Hilfsmittel basteln. Von beidem sollte man auch regen Gebrauch machen, denn Munition bei Händlern, wenn es sie denn mal gibt, ist teuer, verdammt teuer. Ebenfalls heilen Lebensmittel nun über Zeit und nicht mehr direkt. Daher sollte man niemals eine Gelegenheit verstreichen lassen, bei einem Händler ein Stimpack zu ergattern.
Das bringt uns auch schon zum absoluten New Vegas Highlight schlechthin. Der Hardcore-Modus. Dieser ist genau dass, was man sich unter einem harten Überleben nach der Atomkatastrophe vorstellt. So hat im Hardcore Modus selbst Munition ein Gewicht und kann nicht mehr ohne Einschränkungen im Rucksack gehortet werden. Der Charakter hat nun auch ähnlich wie in Die Sims, diverse Grundbedürfnisse wie Hunger, Durst und Schlaf, die man absolut ernst nehmen sollte. Vernachlässigt man eines dieser Bedürfnisse, verliert man zu Beginn nur Kraft oder Zielgenauigkeit. Nach einer gewissen Zeitspanne stirbt man dann. Zerstörte Körperteile lassen sich ebenfalls nicht mehr manuell heilen, sondern man braucht entweder einen Arzt-Koffer, den man zur Heilung einsetzen kann, oder muss schleunigst einen Arzt in irgendeiner Stadt aufsuchen. Das Hauptaugenmerk sollte im Hardcore-Modus auf Deeskalation und Low Profile legen. Anstatt einen von Super Mutanten bewohnten Berg zu erstürmen, sollte man hier schön auf der Straße bleiben und sämtliche trügerischen Winkelgassen ignorieren. Durch diese Einschneidenden Veränderungen in Fallout: New Vegas wirkt die gesamte Handlung trotz zweimaligem Durchspielen vollkommen anders, als im normalen Modus. Damit setzt Fallout: New Vegas die Messlatte für zukünftige Katastrophen-Survial-Spiele sehr hoch.
Allerdings stehen diesen ganzen sinnvollen und positiven Neuerungen einige Probleme entgegen. So ist Fallout: New Vegas von technischer Seite her alles andere als ausgereift. Oft verschwinden Gegner im Boden oder fliegen durch die Luft. In anderen Situationen friert das Spiel schon mal für eine Sekunde ein und Ladezeiten ziehen sich zu bestimmten Situationen unsäglich in die Länge. Trotzdem bleibt die Atmosphäre erhalten.
Ferner sei noch erwähnt, dass die deutsche Version von Fallout: New Vegas gekürzt ist. Zwar nicht mehr so stark wie es noch bei Fallout 3 der Fall, aber es ist in der deutschen Version nicht mehr möglich, menschlichen Gegnern Extremitäten durch Beschuss abzutrennen. Bei Tieren funktioniert dies allerdings immer noch.