1995 war ich elf Jahre alt und die Welt noch in Ordnung. Im Fernsehen liefen alte Bud-Spencer-Filme, auf MTV rockten Guns N’ Roses und an meiner Wand hingen Poster von Michael Jackson und Take That. Völlig unterschiedliche Stars, die jedoch eines gemeinsam hatten: Sie waren Profis auf ihrem Gebiet. Wir bewunderten sie wegen ihres Schauspiel- oder Gesangstalents, ihren Fertigkeiten an der E-Gitarre, ihren Dancemoves oder ihren (selbstverständlich selbstkomponierten) Songs, die uns bis heute in Erinnerung geblieben sind. Kurz: Für das, was sie geschaffen hatten.
2017 ist die Welt eine andere. Wer heute elf Jahre alt ist, schaut nicht mehr fern (schon gar nicht mehr MTV), sondern Youtube. Tausende von sogenannten Youtubern laden wöchentlich, meist zu einer festen Uhrzeit, ihre Videos hoch, und die Community belohnt sie mit Klicks und einem „Daumen nach oben“. Es sind Menschen wie ich und du, die weder tanzen wie Michael Jackson noch selbstgeschriebene Songtexte performen, sondern die unsere Nachbarn sein könnten – und die meisten von ihnen sind jünger als 25. Einige von ihnen nennt man „Influencer“. Es sind die, die das geschafft haben, wovon tausende deutsche Teenager träumen: Berühmt zu sein durch das World Wide Web. Oder auch: Fame durch Youtube. Sie sind es, die heute an den Wänden der Teenager hängen, der Bravo Interviews geben und auf der Straße erkannt werden. Deutschlands erfolgreichste Youtuberin Bibi Heinicke hat es sogar als Hologramm zu Madame Tussauds nach Berlin geschafft – das Wachsfigurenkabinett, das es ablehnte, eine Wachsfigur von Bud Spencer her- und auszustellen.
Zugegeben, es ist wie bei einem Autounfall: Man kann nicht wegschauen, dabei sollte man. Wir sehen 20-jährige, die sich vor eine Kamera setzen und aus ihrem Leben erzählen. Wie sie sich die Haare frisieren, wie ihr Hund aussieht, wie sie durch den McDrive fahren. In den 90ern waren wir ganz scharf darauf, zu sehen, wie das Privatleben von Nick Carter oder Leonardo DiCaprio aussieht. Es waren Stars, die uns nicht nahe waren, sondern die wir nur aus der Ferne bewundern durften, und mit uns taten es Millionen Teenager weltweit.
Heute schauen wir jungen Menschen wie Ahmed aus Hamburg (alias ApoRed) oder Florian aus Berlin (alias LeFloid) dabei zu, wie sie aus ihrem Leben erzählen. So etwas nennt man „Vlog“ oder auch „Realtalk“. Wir beobachten die Influencer dabei, wie sie uns ihre Wohnung zeigen („Roomtour“) oder wie sie mitten in der Nacht ihre Freundin wachschreien („Prank“). Telefonstreiche, die wir in den 90ern am Küchentisch mit Freunden gemacht haben, heißen heute „Challenges“. Ein Talent ist das nicht, und an sich auch nicht verwerflich. Aber Ahmed und Florian und Thomas und Daniel von nebenan verdienen angeblich bis zu 40.000 Euro pro Video – so viel, wie ein Diplom-Ingenieur oder ITler im ganzen Jahr.
Luxusurlaub, finanziert durch 12-jährige
Das viele Geld setzt sich zusammen aus den Einnahmen von Werbevideos vor dem eigentlichen Youtube-Content sowie Produktplatzierungen und Merchandise. Es gibt Influencer wie Luca (alias ConCrafter), die mit „Affiliate-Links“ (Links zu Verkaufsprodukten, die dem Youtuber eine Provision einbringen) offen und ehrlich umgehen. Und es gibt Menschen wie Bianca Heinicke (alias BibisBeautyPalace), die in ihren Videos Produkte scheinbar nebenbei präsentieren und empfehlen, so dass die versteckte Verkaufsstrategie dahinter für das jugendliche Zielpublikum intransparent bleibt.
Schleichwerbung nannte man das früher, heute sind derartige Marketingkonzepte für viele Influencer selbstverständlich. Von dem Geld, das Bibi und ihr Freund Julienco durch ihre minderjährigen Anhänger verdienen, fliegen die beiden regelmäßig nach Los Angeles, Dubai oder Brasilien – Orte, wo vor zehn Jahren höchstens Weltstars wie 50 Cent oder Eminem Urlaub machten. Entsprechende Bilder mit türkisblauen Pools werden auf Instagram gepostet, das neue Insta-Pic wird zuvor auf Snapchat angekündigt und mit einer Roomtour durch die 5-Sterne-Suite lassen sich auf Yotube auch gleich die nächsten Klicks generieren. Der Link dazu steht in der Instagram-Bio oder wird getwittert.
Wer nicht gern verreist, leistet sich von seiner Youtube-Kohle zehn Paar Yeezys (Schuhe, die vom Alpha-Babo Kanye West designt wurden und 1000 Euro kosten, obwohl sie aussehen wie zusammengeflickte Putzlappen), präsentieren diese in einem „Fashion-Haul“ (Video, das neu gekaufte Produkte zeigt) und betonen stolz, dass sie der 1000 Euro teure, längst vergriffene Schuh auf ebay nur 2000 Euro gekostet hat. Und die Community klickt fleißig, um weiter Geld in die Kasse der Influencer zu spülen. Eine Community, die überwiegend aus Minderjährigen besteht, welche sich pro Jahr zwei Paar Schuhe von Deichmann und einen Sommerurlaub bei Oma im Schwarzwald leisten können. Was für 1 Life, Digga.
Fame durch Vollplayback
Abgesehen von unmoralischen Product Placement-Strategien stellt sich die Frage, welchen kulturellen oder informativen Wert die Influencer mit ihrem Content an Jugendliche übermitteln und welchen künstlerischen Gehalt man ihren Videos zuschreiben kann. Da gibt es wenige Youtuber wie Emrah, der in „Lifehack“-Videos (wissenswerte Tricks für den Alltag) zeigt, wie man etwa ein Stück Frischhaltefolie ohne Probleme abreißt oder Pizza auf unterschiedliche Art zubereitet. Und dann gibt es Webstars wie Mustafa Gölbasi alias Mavble, der von seinen Fans Musti genannt wird, Zahnspange trägt und 13 Jahre alt ist.
Übrigens: Wer denkt, Snapchat und Twitch seien der neueste Social-Media-Schrei, ist ja so was von 2013. Über die App „Musical.ly“ filmen sich junge Menschen beim Karaoke singen für Arme. Wer sich in den 90ern noch darüber aufgeregt hat, dass gecastete Popsternchen wie die Backstreet Boys Songtexte trällern, die sie nicht selbst geschrieben haben, erlebt mit Musical.ly was es 2017 braucht, um ein Star zu sein. Für ein „Musical.ly“ reicht es, Lippen und Körper zu Chartsongs zu bewegen. Eigene Texte schreiben? nicht notwendig. Gesangstalent: Who cares? Lipsyncvideos nennt man das, und „Muser“ nennen sich die Stars der Plattform. Die 15 Jahre alten Zwillinge Lisa und Lena sind die wohl größten deutschen „Muser“. Auf Instagram folgen ihnen 10,7 Millionen Abonnenten. Zum Vergleich: Für die Instagram-Beiträge von Robbie Williams, der auf eine mittlerweile 20 Jahre andauernde Solokarriere zurückblickt, interessieren sich lediglich 872.000 User.
Doch nun zurück zu Mavble. Der 13-jährige startete seine Youtube-Karriere mit „Reactions“ (Videos, in denen Youtuber ihre Reaktion auf andere Videos filmen) zu Musical.ly-Videos. Dabei nickt er anerkennend mit dem Kopf, schätzt das Alter der „Muser“ und informiert seine Fans mit genuschelten, gehaltvollen und botschaftsträchtigen Kommentaren „Eigentlich muss es ja mal…never let it go…und dann.“, oder „wo sind wir, Alter, was macht der da?“. Seine 230.000 Anhänger stört das nicht. Schließlich hat Musti ein hübsches Gesicht, lächelt süß und erweist sich mit seiner „Olaseku“ (Frisur, bei der die Haare oben lang (ola) und seitlich kurzrasiert (seku) getragen werden) als echter Trendsetter. Bis zu 2,3 Millionen Klicks haben seine Musical.ly-Reactions, und seine Milchzahn-Community kommentiert begeistert: „du hast coole hare“. Oder: „Vverrwwwiiirreeenn wow du hast mich voll verwirt.“
Wir lernen daraus:
„Ein Star sein“ in 1985: Eigene Songs schreiben und performen
„Ein Star sein“ in 1995: Gecastet werden und von Musikproduzenten geschriebene Songs singen
„Ein Star sein“ in 2003: Zu Castingshows gehen und mit Gesangstalent Superstar werden
„Ein Star sein“ in 2015: Ohne Gesangstalent auf Musical.ly die Lippen zu Songs bewegen
„Ein Star sein“ in 2017: Auf Musical.lys reagieren und sich dabei filmen
Es bleibt die Frage: Was ist das für 1 Kultur, in der Vollplayback-Performances ausreichen, um landesweit berühmt zu werden? In der Videos mit keinerlei Informationsgehalt, Unterhaltungswert, Aussage, Botschaft und Sinn über 2,3 Millionen Menschen interessieren? Und in der kein 14-jähriger mehr in der Lage ist, einen einzigen Satz ohne Rechtschreibfehler zu formulieren?
Verbrecher mit Vorbildfunktion
Weil es so schön war, erinnern wir uns noch einmal an die 90er. Damals mussten minderjährige Boygroup-Mitglieder in Interviews beteuern, dass sie mit dem ersten Sexualverkehr bis zur Ehe warten und ihre Zigarette vor den Paparazzi verstecken. Ehrlich war das nicht, aber auch ein echter Skandal, wenn ein junger Star von der Presse als One-Night-Stand-Liebhaber geoutet wurde oder vor laufender Kamera qualmte. Schließlich hatten Teenie-Stars eine gewisse Vorbildfunktion – ein Begriff, der 2017 nicht mehr zu existieren scheint.
Dass Influencer den Teenies durch verstecktes Product Placement das Taschengeld aus dem Spongebob-Sparschwein ziehen, haben wir bereits gelernt. Dass es irgendwie unmoralisch ist, in 40 Kilogramm Nutella zu baden, während in Afrika die Kinder hungern, checkt der ein oder andere eventuell auch noch. Dass es nicht witzig, sondern aus gesetzlicher Sicht ein Verbrechen ist, sich in einer IKEA-Filiale einschließen zu lassen und dort die Nacht zu verbringen, kapieren nur die wenigsten. Und wer sich nicht traut, es den Influencern gleich zu tun, hat dafür vielleicht keine Bedenken, seinen besten Freund schmerzhaft zu „pranken“, indem er Sekundenkleber auf die Klobrille schmiert – ganz nach dem Vorbild der Youtuber, die trotz ihrer Volljährigkeit scheinbar nicht die Weisheit erlangt haben, dass junge Menschen leicht beeinflussbar sind und nachmachen könnten, was sie da sehen.
Eltern, die ihrem Nachwuchs weismachen wollen, eine Ausbildung sei gegenüber der angepeilten Youtube-Karriere der vernünftigere Weg, dürften es immer schwerer haben. Wer ein echter Webstar werden will, dem reicht maximal ein Schulabschluss. So haben unter anderem Bibi, Julienco, Dner und die Jungs von Apecrime ihr Studium abgebrochen. Andere Youtuber wie Melina Sophie oder die Lochis haben erst gar keines begonnen. Influencer wie ConCrafter (studiert) oder Freshtorge und Liont (haben abgeschlossene Ausbildungen) sind in der Minderheit.
Aufwachen, bevor es zu spät ist
Wer in den 90ern großgeworden ist, fragt sich völlig zu Recht, wie sich unsere Gesellschaft so entwickeln konnte. Wo sind wir falsch abgebogen, wenn Normalos ihre Ausbildung hinwerfen, um dank Internetvideos als Stars veehrt zu werden und Teenagern das Geld aus der Tasche ziehen, um in den teuersten Hotels zu übernachten? Warum schauen wir Menschen dabei zu, wie sie in Brennesseln baden oder Playback-Videos kommentieren? Wann hat das begonnen, dass wir nicht mehr das Weltgeschehen in der Tagesschau verfolgen, sondern es spannender finden, wer auf welchem Kanal den neuesten Prank hochgeladen hat? Wie sieht diese Welt in zehn Jahren aus? Und was ist das überhaupt für 1 Welt?
Oder gibt es doch noch Hoffnung?
Im März veröffentlichte der Spieleredakteur David Hain einen Youtube-Beitrag, in dem er mit seinem Kollegen HandOfBlood erklärt, weshalb er sich schämt, für den Webvideopreis nominiert zu sein. Das sehr empfehlenswerte Video dazu findet ihr im Anschluss an diesen Artikel.
Am 27. April verkündete Bibi Heinicke auf ihrem Kanal den neuesten Coup: Ihre erste eigene Single. In einem fast 14-minütige Werbevideo, das wiederum von mehreren Werbevideos unterbrochen wird, schwärmt die Youtuberin von ihrem Wunsch, in die Charts zu kommen.
Nach dem erfolgreichsten Youtube-Kanal Deutschlands, einer eigenen Duschschaum-Produktlinie, einer Synchronrolle in „Die Schlümpfe – Das verlorene Dorf“ und dem Hologramm bei Madame Tussauds sollte es der vorläufige Höhepunkte ihrer Karriere werden. Doch die Community reagierte unerwartet: Nach nur 48 Stunden sammelte das Musikvideo 1,5 Millionen Dislikes und führt aktuell die Liste der deutschen Youtube-Videos mit den meisten „Daumen nach unten“ an. Die Qualität von Song und Gesang sind dabei sekundär: In den Kommentaren beklagten sich die User unter anderem über die unverschämte Vermarktungsstrategie des Songs, der nur dem Kommerz diene, da Bibi es mit der Musik gar nicht ernst meine. Anders als etwa Mike Singer und Lukas Rieger, die von Anfang an Musikstars sein wollten und von der Community für ihre Songs gefeiert werden, büßt Bibi plötzlich an Glaubwürdigkeit ein, nachdem sie in älteren Videos stets beteuert hatte, nicht singen zu können und es nun doch versucht. That’s just how it is.
Es geschehen eben doch noch Zeichen und Wunder. Was für 1 Erleichterung.
Zum Abschluss möchte ich noch ergänzen, dass ich mit diesem Kommentar nicht nur die Selbstinzenierung der Youtuber, sondern auch das Verhalten der Community kritisiere. Menschen wie ihr tragen dazu bei, dass so ein Phänomen überhaupt erst möglich ist und Leute mit ihrem Content im Web Geld verdienen. Niemand muss das gut finden oder feiern. Konstruktive Kritik schadet niemandem und es ist verständlich und menschlich, auf den Erfolg der Youtuber vielleicht sogar ein bisschen neidisch zu sein. Aber selbst in einer Welt, in der Begriffe wie „Bitch“ oder „Hurensohn“ zum alltäglichen Vokabular der U20er gehören, ist es nicht in Ordnung, andere unter dem Schutzmantel der Anonymität zu beleidigen oder gar mit Mord zu drohen.
Auch Timo Torres aus Solingen alias Liont gehört zu den Influencern, die ich in diesem Artikel kritisiere. Sein Video zum Thema Cybermobbing finde ich trotzdem gut und unbedingt sehenswert.