„Hey, Arschloch!“ So ein Satz fällt eher selten in Computerspielen. In Gothic 2, dem zweiten Teil der Kultserie des deutschen Developers Piranha Bytes, gilt so ein Spruch eher als Standardbegrüßung. Nach dem ersten Teil meines Specials widme ich mich heute dem Rollenspiel, das mit Hilfe des österreichischen Publishers Jowood vertrieben wurde und sich seinerzeit durchaus mit dem Genreprimus Morrowind messen konnte. Bis heute bildet Gothic 2 für viele den Höhepunkt der Serie.
Zu Anfang der Story setzen wir genau dort wieder an, wo der Vorgänger Gothic 1 aufhörte. Der namenlose Held hat die magische Barriere der Gefängniskolonie von Khorinis zerstört und nebenbei die Welt vor einem üblen Erzdämon gerettet. Zum Dank wird er von einem Erdbeben verschüttet und vergessen, bis ihn der Dämonenbeschwörer Xardas endlich herausholt, allerdings auf Kosten aller Fertigkeiten, die der Held in seinem letzten Abenteuer errungen hatte.
Undank ist der Helden Lohn. Zwar hat der Hauptcharakter sich und seine Freunde – die natürlich auch wieder mit von der Partie sind – befreit, allerdings aber auch allerlei Gesindel aus der ehemaligen Strafkolonie, welches nun die Insel unsicher macht. Hinzu kommen Drachen, Orks, Scharen von Echsenmenschen in Diensten des finsteren Gottes Beliar und im Addon auch noch Piraten, Geister und übergeschnappte Erzbarone mit einem Faible für Archäologie. Das Übliche halt.
Also machen wir uns zunächst auf in die nahegelegene und (relativ) sichere Hafenstadt Khorinis. Wie der einleitende Satz schon vermuten lässt, wird man in Gothic 2 eher selten mit offenen Armen in Empfang genommen. Aber gerade diese Herausforderung ist es, die von vielen Fans der Reihe so geschätzt wird.
Ich kann mich noch gut an meine ersten Erfahrungen erinnern. Damit ich in der Unterstadt als Lehrling aufgenommen werden kann, will der ansässige Schmied zum Beweis meines Mutes eine Ork-Axt sehen. Relativ einfache Sache, sollte man meinen, außer dass ganz zu Anfang noch jeder Hanswurst den Helden relativ leicht umhauen kann. Im nahen Wäldchen befindet sich ein einzelner Späher der Grünhäute. Nun gut, nichts gewagt, nichts gewonnen. Drei Hiebe versetze ich dem Kerl mit meinem rostigen Schwert, bevor er auch nur reagiert. Seine Hitpoints bleiben unberührt. Er holt einmal aus und ich liege im Dreck.
Mist. Zweiter Versuch. Ich greife an und will ihn Richtung Stadtwache locken. Also nehme ich die Beine in die Hand, sobald ich seine Aufmerksamkeit habe … und laufe direkt in einen friedlich schlummernden Schattenläufer hinein. Der ist natürlich nicht gerade gut gelaunt, nachdem ich sein Schlummerstündchen unterbrochen habe. „Lauf, Forrest! Lauf!“, denke ich mir nur und will schon meinen Spielstand wiederherstellen, da kracht es plötzlich hinter mir. Mit zwei Hieben bolzt das Vieh den Ork um und legt sich wieder schlafen.
Hm. Na gut. Die Axt liegt auf dem Boden, nur dass jetzt ein noch größerer, hässlicherer und vor allem stärkerer Gegner zwischen mir und dem Objekt meiner Begierde steht, zumindest wenn ich ihn aufwecke. Schön langsam heran … Rums! Wieder im Dreck. Neu laden. Okay, erstmal zurück in die Stadt. Neue Rüstung? Reicht für das Vieh auch nicht. Magie? Spruchrollen sind teuer, aber nützlich. Leider bleiben mir die besseren für den Moment verwehrt.
Schauen wir uns mal im Hafen um. Da mach ich zunächst Bekanntschaft mit dem Rausschmeißer der örtlichen Kneipe. Und schon lieg ich wieder im Dreck. Zwar bin ich noch am Leben, denn Mord wird von der Stadtwache gar nicht gern gesehen, doch jemanden zusammenschlagen und sein Gold klauen befindet sich offenbar in einer rechtlichen Grauzone.
Okay, jetzt reicht’s! Wenn man sie nicht schlagen kann, soll man halt mitmachen. Also stell ich mich gut mit der örtlichen Diebesgilde. Oh, und da kann ich auch Schleichen lernen! Schön leise an den Schattenläufer herangepirscht, Axt gegriffen und schon kann ich mich vor dem Schmied als tapferer und gesetzestreuer Bürger verkaufen. Aber zur Lehre gehe ich doch lieber zum Bogner. Da lerne ich auch gleich noch das Häuten von Tieren und kann die Felle der Viecher, die ich erledige, für gutes Gold verkaufen.
Im weiteren Spielverlauf erwartet einen dann noch die Entscheidung, welcher Gemeinschaft man sich anschließt. Derer gibt es nämlich drei. Entweder man schließt sich den Gottesstreitern des Innos, den Paladinen an. Wer eher magisch angehaucht ist, kann sich auch zum Kloster durchschlagen und dort dem Gott Innos als Feuermagier dienen. Oder man bleibt bei seinen Gefängniswurzeln und schließt sich Lee’s Söldnern an. Für die Hauptstory ist die Wahl weniger wichtig, jedoch für die Fähigkeiten und einige Nebenquests.
Einer Warnung bedarf es. Egal ob man nun als reiner Nahkämpfer, Bogenschütze, Magier oder mit einer Mischform unterwegs ist, man frisst Dreck und das nicht zu knapp. Denn Gothic 2 hat eine steile Lernkurve. Auto-saves, die alle zwei Minuten oder vor wichtigen Entscheidungen den Spielstand sichern, gibt es nicht. Es gilt also der alte Sierra Grundsatz: Save early, save often. Was die Bedienung angeht, so laufen die Gefechte in Gothic 2 deutlich runder als noch im Vorgänger. Dennoch ist es für manche eher Krampf- als Kampfsystem. Für die eingefleischten Fans ist es allerdings Teil der Herausforderung. Der knackige Schwierigkeitsgrad lässt sich nämlich auch nicht heruntersetzen. Im Gegenteil, das Add-On schraubt die Anforderungen nochmal deutlich hoch. You’re going to die: Diese Philosophie gibt es eben nicht erst seit Dark Souls.
Die Spielwelt (bestehend aus der Insel Khorinis und dem alten Minental) ist groß, detailliert und frei erkundbar. So richtig zum Leben erweckt wird sie allerdings erst von den Charakteren, die sie bewohnen. Reguläre NPCs gehen ihrem Tagesgeschäft nach und reagieren auf die Taten des Helden sowie auch auf sein Gesicht. Denn der Wiedererkennungswert des Helden ist groß. Neben einem Steckbrief, der auf der Insel kursiert, erkennen wiederkehrende NPCs aus dem ersten Teil wie Lares und Lee den Spieler auf Anhieb und äußern ihre Verwunderung, dass wir noch am Leben sind. Das kann gut oder schlecht sein. Saturas zum Beispiel, der oberste Wassermagier, ist aufgrund eines Vorkommnisses aus Gothic zunächst gar nicht gut auf den Helden zu sprechen. Klingt so, als ob es Pflicht wäre, den ersten Teil von Gothic gespielt zu haben? Ja und nein. Während die Kenntnis die Immersion zweifellos erhöht, kann der Held jederzeit eine Gesprächsoption auswählen, die auf seinem Gedächtnisverlust zu Beginn der Story basiert und bekommt eine Erklärung des Geschehenen. Somit sind also auch Einsteiger nicht total verloren.
Für die Grafik kommt die gleiche Engine wie in Gothic zum Einsatz. Wie schon beim Vorgänger sorgt der Communitypatch für fehlerfreien Betrieb auch unter Windows 10. Charaktermodelle und Umgebung besitzen mehr Polygone als im Original, aber die Grenzen sind offensichtlich. Dafür glänzt die Spielwelt mit weitläufigen Gegenden, die ohne zwischenzeitlichen Ladezeiten auskommen.
Die Animationen wirken im Großen und Ganzen sehr rund. Lediglich beim Sprinten sehen Held sowie NPCs teils doch recht ulkig aus. Dafür sind die Partikeleffekte für Magie sehr gut gelungen. Bestimmte Zauber sorgen zudem für dynamische Lichteffekte. Ebenfalls sollte man die Himmels- und Wettereffekte erwähnen. Es lohnt sich, einfach mal ein oder zwei Minuten stehenzubleiben und bei einem plötzlichen Gewitter die Blitze über den Himmel zucken zu sehen oder in einer klaren Nacht die Sternschnuppen zu beobachten, während der Mond dank dynamischem Tag- und Nachtwechsel seine Bahnen zieht.
Die Musik kommt im Gegensatz zum Nachfolger Gothic 3, bei dem ein Orchester zum Einsatz kam, noch relativ synthetisch daher. Dennoch hat Komponist Kai Rosenkranz – KaiRo war übrigens stets einer der ersten Ansprechpartner der Community bei PB – solide Arbeit geleistet und für eine stimmungsvolle musikalische Untermalung gesorgt. Die Synchronsprecher sind ebenfalls von bester Qualität, auch wenn man aufgrund der Masse an NPCs doch hin oder wieder mal mehrere Leute trifft, die sich auffallend gleich anhören.
Wer Wert auf eine gute Story und Charaktere legt, wem die leicht angestaubte Grafik nichts ausmacht und wer die Steuerung als zusätzliche Herausforderung betrachtet, der kann auch heute noch getrost zu Gothic 2 greifen. 14 Jahre nach Release bleibt es immer noch eines der besten Rollenspiele auf dem Markt und bei rund 10 Euro für die Gold-Edition ein echtes Schnäppchen.
Falls es im Artikel noch nicht deutlich genug geworden ist, Gothic 2 steht auf meiner Liste der Top 10 Games aller Zeiten ganz weit oben. Und wir sind noch nicht fertig. Nächstes Mal wird es düster, wenn wir in die Nacht des Raben eintauchen.