Der Begriff „Varporware“ bezeichnet unter anderem Spiele, deren Fertigstellung sich derart verspätet, dass so manch einer sogar den geplanten und immer wieder verschobenen Release in Frage stellt. Das ambitionierte Project Trico ist so ein Kandidat und spielt aufgrund einer Entwicklungsdauer von zehn Jahren und mehrfacher Release-Verschiebungen seit 2011 in einer Varporware-Liga mit Duke Nukem Forever oder Half-Life 2. Nachdem das Action-Adventure 2009 für die PS3 angekündigt wurde, erscheint es nun endlich unter dem finalen Titel The Last Guardian exklusiv für die PS4. Wir haben das bisher vielleicht eigensinnigste Spiel der aktuellen Konsolengeneration getestet und verraten euch, ob sich die lange Wartezeit gelohnt hat.
Statt brachialem Action-Getöse oder rockigen Gitarrenriffs ertönen im Vorspann von The Last Guardian andächtige, sphärische Klänge, die an sakrale Kirchenchöre erinnern. Es ist Musik, die besänftigt, uns durchatmen lässt, aber auch etwas Bedrohliches heraufbeschwört und augenblicklich klarmacht, dass uns fernab von Weltraumshootern und fröhlich-kunterbunten Plattformern ein völlig anderes, fast schon meditatives Spielkonzept erwartet. Kein Wunder, schließlich ist The Last Guardian der geistige Nachfolger der außergewöhnlichen PS2-Spiele Ico und Shadow of the Colossus. Die beiden Spiele wurden genau wie The Last Guardian von Fumito Ueda mitentwickelt und stachen ihrerzeit durch eine ganz besondere Atmosphäre und ein eigenwilliges Spieldesign aus der breiten Masse hervor. Ob sich Sonys neuester Streich ebenfalls als außergewöhnliche Genreperle entpuppt?
Mithilfe des linken Analogsticks wecken wir einen vielleicht zwölfjährigen, namenlosen Jungen, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird. Dabei hören wir aus dem Off eine japanische Erzähltimme und lesen dazu deutsche Untertitel. Der Junge weiß weder, wie er in die moosbedeckte Höhle gelangte, noch was die seltsamen Symbole bedeuten, die seine Haut bedecken. Erschrocken stolpert er zurück vor Trico, einem menschenfressenden Fabeltier, das neben ihm angekettet, verwundet und knurrend in der Höhle lauert.
Zunächst werden Tasten eingeblendet, die wir betätigen müssen. Genretypisch klettern wir Felswände empor, heben Gegenstände auf, ziehen Hebel oder springen über kleinere Hindernisse. Mit dem rechten Analogstick können wir die Kamera justieren, was sich jedoch als schier unmöglich erweist, da die Kamera macht, was sie will und uns schon nach kürzester Zeit zur Verzweiflung treibt. Tatsächlich bleibt dies bis zum Ende so, wir sehen nie was wir wirklich sehen wollen und sollten, fast scheint es als versperre uns die Kamera absichtlich die Sicht – besonders fatal in einem Spiel, in dem ein riesiges Wesen wie Trico oft den gesamten Bildschirm einnimmt und uns im wahrsten Sinne des Wortes stets die Übersicht fehlt.
Im Zentrum von The Last Guardian steht die ganz besondere Beziehung zwischen dem Jungen und dem Fabelwesen, das trotz seiner meterhohen Erscheinung verspielte, vertraute Züge eines Hundes, die tapsigen Bewegungen einer Katze und das Gefieder eines Vogels aufweist. Einfach mal innehalten um das Verhalten des Tiers beobachten, auf ihm „reiten“ und mit ihm zu interagieren entwickelt schnell eine ganz eigene Faszination. So rufen wir das Trico beispielsweise, wenn wir einen zu hohen Felsvorsprung nicht alleine bewältigen können. Bewegt es sich dann in unsere Richtung, steigen wir auf seinen Rücken, rufen nach ihm und es schwingt sich mit dem Jungen auf dem Rücken über das Hindernis. Wir beseitigen aber auch selbst Hindernisse, die dem Trico im Weg liegen, damit es uns folgen kann oder lotsen es durch unsere Rufe zu Gängen, durch die es hindurchpasst. Im Grunde wird das gesamte Spiel allein von dieser besonderen, wunderbaren Beziehung der beiden getragen.
Wie auch in Ico und Shadow of the Colossus verfolgen wir einen linearen Handlungsstrang durch schlauchförmige Umgebungen, meistern Kletterpassagen und kleinere Rätsel. Getrieben werden wir von der mysteriösen Ausgangssituation, von der unbekannten Herkunft des Tricos, vom unbekannten Heimatdorf, von dem der Junge spricht. Was bedeuten die Symbole auf der Haut des Jungen? Wie und warum wacht er mit dem Trico in einer Höhle auf, deren Ausgang jemand mit Brettern vernagelt hat? Wer hat das Trico verwundet und was bedeuten die seltsamen Artefakte, die wir finden? Wir spielen The Last Guardian, weil wir uns Antworten zu alledem erhoffen. Abseits davon gibt es weder NPC-Dialoge, noch Kämpfe und Waffen, keine Nebenquests, keine sammelbaren Items, keinen Multiplayer-Modus, keine Boni. The Last Guardian ist kein Spiel für Speedrunner und Rekordjäger, sondern will euch an einer besonderen Geschichte teilhaben lassen, für die ihr euch Zeit nehmen und Geduld mitbringen müsst. Abgesehen von den Hauptfiguren gibt es nichts – die völlige Isoliertheit in einer Welt, in der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint und die surreal und mystisch anmutet, sorgt für ein ganz eigenes Spielgefühl und für eine spürbar besondere Atmosphäre, die so kaum ein anderes Spiel bietet. Wir fühlen uns an Lara Crofts allererste Ausflüge in Tomb Raider von 1996 erinnert, als wir gleich zu Beginn des Spiels ganz allein die völlig stillen und einsamen Höhlen Perus erkundet haben. The Last Guardian schafft es, Einsamkeit als etwas Schönes und Ästhetisches zu zelebrieren.
Aus technischer Sicht kann The Last Guardian nicht mit PS4-Kollegen wie Uncharted 4 mithalten. Die optische Präsentation ist nicht auf Current-Gen-Niveau, beispielsweise fallen uns Clipping-Fehler auf. Dafür sehen das Federkostüm und die Bewegungen des Trico schlicht atemberaubend aus. Der orchestrale Soundtrack ist wunderschön, kommt aber nur sehr vereinzelt zum Einsatz. Meist hören wir nichts als Stille, was hervorragend zum Gefühl der Isoliertheit des Spielers in einer verlorenen Welt beiträgt. Die hektischen, kindlichen Bewegungen des Jungen wirken zwar realistisch, sind aus spielerischer Sicht aber eher unpraktisch, da die Steuerung so leider zu ungenau geraten ist.
Es müssen nicht immer Feuergefechte und Highscores sein: The Last Guardian holt uns aus dem stressigen Alltag ab und entführt uns in ein wunderschönes, japanisches Märchen über eine ganz besondere Freundschaft. Lasst euch von den Kritikpunkten nicht abschrecken, bringt Geduld mit und lasst euch auf diese Geschichte ein, deren emotionale und atmosphärische Stärken selbst die miese Kamera und die nervige Steuerung überstrahlen.